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»Gebt uns doch endlich unsere Kinder zurück!«

Jugendamt holt Neugeborenes und seine sechs Geschwister ab - zweifelhaftes Gutachten

Von Christian Althoff
Münster (WB). 53 000 Euro Schmerzensgeld muss die Bundesrepublik nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an Eltern zahlen, denen das Jugendamt Münster seine sieben Kinder offenbar zu Unrecht weggenommen hat. Das Geld ist im Oktober überwiesen worden, aber die Kinder leben noch immer an fremden Orten.

Es ging alles ganz schnell, damals, im Oktober 2001. Als Cornelia Haase (36) ihr siebtes Kind erwartete, wandten sie und ihr Mann Josef (36), ein Lackierer, sich mit der Bitte um Erziehungshilfe ans Jugendamt. Die Behörde schickte einen Gutachter, der die Familie besuchte. Dreimal, jeweils zwei Stunden. Dann fällte er auf 56 Seiten sein Urteil: »Keines der Kinder verfügt über eine tragfähige Bindung an Mutter oder Vater.« Josef Haase wirke ausgelaugt, und seine Frau sei nicht in der Lage, den Kindern mit Zuwendung und Wärme zu begegnen. »Jeder weitere Umgang zwischen Eltern und Kindern muss unterbunden werden«, heißt es in der Stellungnahme vom 17. Dezember 2001.
Das Jugendamt reagierte noch am selben Tag - ohne die Eltern oder die Kinder anzuhören. Maurice (2), Sandra-Kristin (3), Anna-Karina (6), die Zwillinge Lisa-Marie und Nico (9) und Timo (11) wurden mit einem Beschluss des Amtsgerichtes aus Kindergarten und Schule abgeholt. Der Mutter, die damals gerade im Johannesstift Münster entbunden hatte, wurde die sechs Tage alte Tochter Laura-Michelle noch auf der Wöchnerinnenstation heimlich weggenommen - für den Chefarzt »ein Skandal«. Der Gynäkologe beschwerte sich damals beim Amtsgericht und schrieb, die Mutter werde seit 1992 im Johannisstift betreut: »Sie hat immer den Eindruck einer verantwortungsvollen Person vermittelt und ist während der Schwangerschaften zu allen Vorsorgeuntersuchungen gekommen.« Wenn sie ihre anderen Kinder mitgebracht habe, hätten diese sich gut benommen, seien freundlich und gut erzogen gewesen. »Es hat keine Anzeichen für irgendeine Vernachlässigung gegeben.«
Dieser Brief des Chefarztes blieb ebenso fruchtlos wie der Klageweg bis vors Oberlandesgericht Hamm. Sechs Monate lebten die Kinder bereits von ihren Eltern getrennt, als das Bundesverfassungsgericht im Juni 2002 entschied, die Vorinstanzen hätten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht genügend beachtet, die Bedeutung des Elternrechtes nicht ausreichend gewürdigt und nicht geprüft, ob sich die Expertise des Gutachters auf Fakten stützt.
Das Bundesverfassungsgericht verwies die Sache deshalb zurück ans Amtsgericht Münster. Dieses Gericht führte schließlich im März 2003 eine Hauptsacheverhandlung durch, blieb aber bei seiner Auffassung und entzog den Eltern das Sorgerecht. »Obwohl die Kinder dem Richter unter vier Augen gesagt hatten, dass sie zu uns wollen«, schluchzt Cornelia Haase. So hatte Nico dem Richter einen Brief an seine Mutter diktiert: »Liebe Mama! Schade, dass du nicht kommst und liebe Grüße von Maurice und Sandra und von Timo und Anna, und dass es Lisa und Anna gut geht. Ja, und vielleicht könntet ihr mal herkommen. Oder geht das nicht?« Zu der Aussage Lisa-Maries, sie wolle zu ihren Eltern zurück, schrieb das Gericht, dies »spiegele nicht ihre Absicht wider« sondern sei »Ergebnis eines Loyalitätskonflikts«.
Zumindest moralische Unterstützung bekamen die Eltern schließlich von Prof. Dr. Wolfgang Klenner aus Oerlinghausen. Der Diplom-Psychologe untersuchte das Gutachten des Psychologen, das zur Wegnahme der Kinder geführt hatte, und kam zu einem vernichtenden Urteil: Das Gutachten sei »völlig unbrauchbar«, befand Klenner, der seit 1954 Familiengutachten erstellt. So habe der Psychologe bei seinen Besuchen nur drei Kinder zu Gesicht bekommen, aber über sechs Kinder geschrieben. Und das Jugendamt habe das siebente Kind wegnehmen lassen, obwohl dieses zum Zeitpunkt der Begutachtung noch nicht einmal geboren war. »Selbst, wenn man in einer Familie Defizite feststellt: das Wegnehmen der Kinder darf nur der allerletzte Schritt sein. Das Jugendamt hätte viele Möglichkeiten gehabt, die Kinder in der Familie zu betreuen. Hier sind die Elternrechte sträflich missachtet worden«, kritisiert Prof. Klenner - eine Einschätzung, die auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt, an den sich die Eltern in ihrer Not gewandt hatten. Die Wegnahme des neugeborenen Kindes habe für die Mutter »traumatische Wirkung« gehabt und dem Kind seien die Vorteile des Stillens vorenthalten worden. Das Abholen der Kinder aus Schule und Kindergarten und ihre Unterbringung in unbekannten Pflegefamilien sei »nicht erforderlich« und »nicht angemessen« gewesen, urteilten die Straßburger Richter und verpflichteten die Bundesrepublik im April 2004 zu Schmerzensgeldzahlungen. Die Kinder blieben allerdings entzogen.
Den Eltern bleibt jetzt nur noch die Hoffnung auf den Europäischen Gerichtshof. Nachdem in Straßburg bereits entschieden worden war, dass die Menschenrechte der Eltern verletzt worden waren, will das Gericht nun im Januar entscheiden, ob es die Klage gegen die Kindeswegnahme annimmt. »Das Schlimme ist, dass soviel Zeit vergeht und den Kleinen die Kindheit genommen wird«, sagt die Mutter und zeigt einen Brief, den ihre Tochter Lisa Anfang 2003 an ihre Schwester geschrieben hat: »Ich vermisse euch so doll, dass ich fast jede Nacht heule. Ich schenke euch die Fotos, damit ihr euch an mich erinnern könnt. . .«. Seite 4: Kommentarwww.kinderklau.tk

Artikel vom 18.12.2004