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Eine alte Tradition nur für Frühaufsteher

Seit beinahe 70 Jahren zieht der Posaunenchor an den Adventssonntagen durch Werther

Von Dunja Henkenjohann
Werther (WB). In Werther gehören sie zur Vorweihnachtszeit wie der Adventskranz oder Dominosteine. Jeden Adventssonntag zieht eine kleine Gruppe Bläser des Posaunenchores der Evangelischen Kirchengemeinde Werther durch die Stadt, um die Bürger auf das Fest der Liebe einzustimmen. Ihr Spiel heute Abend im Festgottesdienst um 18 Uhr in der Jacobi-Kirche rundet fünf besinnliche Wochen ab.

Seit 1935 sind die Musiker in der Adventszeit treue Begleiter der Wertheraner. Ingo Schmeer ist - naturgemäß - zwar noch nicht von Anfang an dabei, aber immerhin ist das Ausschlafen an den Adventssonntagen auch für den 67-Jährigen schon seit 51 Jahren tabu. 1953 ist er zum ersten Mal mit dem Posaunenchor durch die Stadt gezogen, um den Tag musikalisch einzuläuten. Heute zählt er zu den dienstältesten Adventsbläsern und kann sich die letzten Wochen des Jahres ohne diese kleinen Auftritte gar nicht mehr vorstellen.
Ursprünglich kommen die musikalischen Vormittage vom Kurrende-Singen einiger bedürftiger Achtklässler, die mit ihrem Lehrer auf die Straße gegangen sind, um um Spenden zu bitten. Als dem Lehrer das Singen aus politischen Gründen verboten wurde, übernahm der CVJM die Aktion. »Bis zum Krieg wurde noch gesungen«, erinnert sich Ingo Schmeer. Später zogen dann auch die Posaunenbläser mit, bis in den 60er Jahren nur noch die Bläser übrig blieben.
20 bis 25 Musiker aller Generationen sind Sonntag für Sonntag dabei. »Manchmal frage ich mich auch, was uns motiviert, bei Wind und Wetter in die Kälte zu gehen«, fragt Ingo Schmeer. Treffpunkt ist um 7.30 Uhr das evangelische Gemeindehaus, dort teilen sich die Bläser in drei Gruppen auf. Nordstraße, Kök, Borgholzhausener Straße ist ein Bereich, eine zweite Gruppe begibt sich in Richtung Schwarzer Weg und Süthfeld, Gruppe Nummer drei spielt im Bereich Speckfeld, Enger Straße und Ravensberger Straße.
Jeden Adventssonntag die gleiche Tour, jeden Adventssonntag die selben Haltepunkte, an denen »Macht hoch die Tür« oder »Tochter Zion« angestimmt wird - dennoch wird es weder den Musikern noch ihrem Publikum langweilig. Ganz im Gegenteil. »Wir bekommen sogar schon Bestellungen«, erzählt Ingo Schmeer. So wurde er erst kürzlich von Bewohnern des Flachskamps gebeten, auch dort vorbeizukommen und zu spielen. Schmeer: »Viele Neubürger im Süthfeld kennen diese Wertheraner Tradition ja noch gar nicht.«
Ob klirrende Kälte, strömender Regen oder strahlender Sonnenschein - der Posaunenchor ist immer unterwegs. »Wenn es so richtig frostig ist, freuen wir uns natürlich umso mehr, wenn wir einen heißen Glühwein, einen Kaffee oder Plätzchen bekommen«, erzählt Ingo Schmeer, der schon häufiger erlebt hat, dass er mit seinen Mitstreitern in ein Haus einkehren musste, um die Instrumente auf der Heizung wieder auftauen zu lassen.
Doch die sonntägliche Tour macht nicht nur Spaß: »Wir haben auch schon Prügel bekommen«, erinnert sich das »Posaunen-Urgestein« an Tage, an denen die Musiker sogar beleidigt wurden oder ihnen entzürnte Wertheraner schimpfend hinterherliefen. »Aber das ist die Ausnahme«, sagt Schmeer. Wenn er nur an die Kinder denkt, die jeden Sonntag am Speckfeld sehnsüchtig auf ihn und die anderen Bläser warten, oder an den ausländischen Mitbürger, der auf dem Balkon steht und ihnen das Handy entgegenstreckt, weil irgendwo in der Ferne jemand die Musik hören will, oder an die unzähligen Postkarten und Dankesbriefe - dann wird die Frage »Was haben wir eigentlich davon?« plötzlich vollkommen überflüssig.
Im kommenden Jahr feiert die Tradition des Adventsblasens ihr 70-jähriges Bestehen. 70 Jahre werden die Bürger dann musikalisch an jedem Advenstsonntag auf Weihnachten eingestimmt. 52 Jahre von ihnen wird dann wohl auch Ingo Schmeer dabei gewesen sein. Das sind mehr als 200 Vormittage, die er geopfert haben wird. 208, um genau zu sein. 208? »Nein«, schmunzelt Ingo Schmeer. »Einmal war ich nicht dabei. Da habe ich verschlafen.«

Artikel vom 24.12.2004