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Sicher glitzern in der Finsternis

Per Video erleben sich Realschüler: Reflektorfolie macht Menschen sichtbar

Schloß Holte-Stukenbrock (ms). Die Häuser erstrahlen im Glanz der Lichterketten - dazwischen bewegen sich morgens oder abends in der Dunkelheit unsichtbare Menschen. Unsichtbar, weil sie meist dunkle Kleidung tragen. Das kann Radfahrern, Kindern auf dem Schulweg, aber auch Erwachsenen zum Verhängnis werden. Anschaulichen Unterricht gestaltete diese Woche Verkehrssicherheitsberaterin Ellen Haase von der Kreispolizei Gütersloh in der Realschule. An jedem Morgen arbeitete sie mit einer der fünf sechsten Klassen in der Dunkelheit.

Was man selbst erfährt und sieht, wirkt nachhaltiger. Deshalb setzte sich Ellen Haase ans Steuer ihres Autos und ließ die Sechstklässler sich am Rande des unbeleuchteten Weges aufstellen. Auf dem Beifahrersitz hält Lehrer Norbert Dallmeier die Kamera und nimmt auf, was im Licht der Autoscheinwerfer zu sehen ist. Nicht viel, so stellen die Schüler später fest, als sie den Film sehen. Ganz anders die Sequenzen Minuten später. Lehrerin Claudia Wehle hatte reflektierende Klack-Bänder, eine Bauarbeiter-Weste und V-Bänder verteilt. Im Licht der Scheinwerfer glitzern und funkeln die Kinder, als ob sie eine Taschenlampe tragen. Sie sind auffällig sichtbar.
Ein Fußgänger sieht in der Dunkelheit mehr, berichtete Ellen Haase gestern den 27 Schülern in der Klasse 6d. Allerdings begehen die meisten einen Denkfehler: Ich sehe das Auto, also sieht der Autofahrer auch mich. Das ist aber nicht so. Die Abblendlichter eines Fahrzeugs beleuchten 20 Meter der Straße. Streulichter blenden den Fahrer, schmutzige oder beschlagene Scheiben, eine nasse Fahrbahn - und das bei 50 Stundenkilometer Geschwindigkeit: »Ein Autofahrer muss sich in einer Sekunde zwei Mal neuen Sichtverhältnissen anpassen. Das ist nicht zu schaffen.«
Für seine Sicherheit müsse also jeder selbst sorgen. Und das wird erreicht, indem Fußgänger und Radfahrer sich sichtbar machen. Mit Reflektoren. Ellen Haase hatte Reflektorbänder und Folien dabei. Und eine gläserner Christbaumkugel, die sie halb mit Alufolie umwickelt hat. Reflektorfolie besteht aus solchen halb verspiegelten Glaskügelchen - und zwar aus 15 000 Stück pro Quadratzentimeter. Unter dem Mikroskop können die Schüler die Kügelchen sehen. Und die werfen schwache Lichtstrahlen zurück zum Autofahrer. »Das ist angewandte Strahlenphysik«, sagt Ellen Haase.
Gefährlich ist das Licht der Dämmerung, wenn der Himmel schon relativ hell sei, alles am Boden aber sehr dunkel. Zwar sei helle Kleidung besser als dunkle, aber selbst die schützt nicht vor schweren Unfällen.
Ellen Haase zeigte den Schülern Bilder eines tödlichen Unfalls, der sich in den Osterferien 2002 in Verl ereignet hat. Eine 17-jährige Inline-Skaterin war auf unbeleuchteter Straße in der Dunkelheit unterwegs. Sie trug eine helle Jeansjacke. Trotzdem hat ein Autofahrer sie nicht gesehen. Sie schlug mit dem Kopf auf den Holm des Autos und starb noch in der gleichen Nacht. Die Frau war für den Autofahrer quasi unsichtbar. Haase zeigte ein Foto des lichttechnischen Gutachtes: Nur Reflektorstreifen, am besten an den Beinen, die sich bewegen und damit noch mehr Aufmerksamkeit erregen, machen Menschen nachts sichtbar für Autofahrer. Die Frau ist außerhalb geschlossener Ortslage auf der rechten Fahrbahnseite mit ihren Rollschuhen gefahren. »Links gehen, der Gefahr ins Auge sehen«, eine Formel, die Schüler heute kaum noch kennen. Und obwohl die Frau unsichtbar war und auf der falschen Seite fuhr, sei der Autofahrer rechtskräftig wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Mit 50 Stundenkilometern fuhr er zu schnell - er hätte nur so schnell fahren dürfen, wie er sehen und innerhalb des Sichtfeldes hätte abbremsen können. Sichtbare Fußgänger sind also auch im Interesse der Autofahrer.
Ellen Haase beklebte gestern Schuhe, Schulranzen und Jacken der Schüler mit Reflektorfolie. Eine Schülerin wollte das nicht, die Jacke sei neu, sie würde Ärger mit ihrer Mutter bekommen. Eine andere wollte die Folie nicht an ihrem Rucksack haben. Die Nachlässigkeit der Eltern, die nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder sichtbar sind und dass die Beleuchtung am Fahrrad funktioniert, ärgert Ellen Haase. Aber auch, dass sie nicht alle überzeugt. »Es kann immer nur ein Angebot sein, eine Chance, zu überleben.«

Artikel vom 17.12.2004