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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Bernd Tiggemann


»Das könnt ihr nicht wirklich ernst meinen!«, haut mich kürzlich ein alter Bekannter an. »ÝDein Reich kommeÜ, das betet ihr doch in jedem Gottesdienst beim Vater Unser, oder?« - »Ja sicher!«, antworte ich ihm, zugegeben etwas verunsichert. »Ja und«, fährt er fort, »wisst ihr eigentlich, was ihr da sagt?« - »Aber hundertprozentig«, werfe ich ein - noch etwas unsicherer als zuvor.
Vielleicht hat er meine Unsicherheit gespürt, jedenfalls fängt er jetzt an, so richtig auszuholen. »Euch geht es doch mindestens genauso gut wie mir. Die meisten Gottesdienstbesucher haben sich doch ihre eigene kleine Welt zusammen gebastelt. Jeder gerade so, wie es ihm gefällt. Mit 'ner nett eingerichteten Wohnung, vielleicht sogar 'nem tollen Häuschen, dazu Familie, Kinder, ein flotter Flitzer in der Garage. Was will man mehr? Und da willst du mir allen Ernstes erzählen, ihr wartet tatsächlich auf Gottes Reich? Warum denn gleich alles über den Haufen werfen, was wir jetzt haben? Sicher, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber ein paar kleine Ausbesserungen in Richtung Arbeitsmarkt und Gesundheitspolitik würden doch vielleicht schon reichen. Es muss ja nicht gleich der ganz große Wurf sein. Ich jedenfalls fühle mich auch so ganz wohl. Wegen meiner kann Gott mit seinem Reich noch ein paar Jahrzehnte warten. So dringend brauche ich das jetzt nicht!«
»Rumms, das hat gesessen«, denke ich, will mich aber noch nicht geschlagen geben. Darum ziehe ich die verbale Waffe aller Waffen und gebe ihm die Frage einfach zurück. »Auf was, mein Lieber, wartest du denn so?«
Stille. Mein Gegenüber schweigt. Ob er schon angezählt ist? »Na ja«, fängt er zögernd an, »erstmal warte ich jetzt darauf, dass es Weihnachten wird. Dann wird entspannt gefeiert, im Kreis der Familie, versteht sich.« »Ist das alles, oder was?«, setze ich ihm die Pistole auf die Brust. »Nein nein, natürlich nicht. Dass es beruflich etwas bergauf geht, das wär' schon schön. Und dass die Kinder ordentliche Abschlüsse in der Schule machen, das ist wichtig. Sonst wird ja nichts aus ihnen.« »Ist das wirklich alles?«, setze ich ein letztes Mal nach. »Ja, erstmal ist das, denke ich, alles.« Und damit verstummt er.
Ich kann im Nachhinein nicht mehr genau sagen, wann es bei ihm »Klick« gemacht hat. Vielleicht schon, als ich ihn dezent darauf aufmerksam machte, dass es außer ihm noch andere Menschen auf dieser Welt gebe. Menschen, denen es deutlich schlechter gehe als ihm. Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass alles auf den Kopf gestellt würde, was es auf unserer Erde gibt.
Vielleicht als ich anfing, ihm zu erzählen, wozu denn dieses Kind in der Futterkrippe, auf das er ja schließlich auch warte, tatsächlich gekommen sei: um Friede auf Erden zu bringen, so wie es die Menge der himmlischen Heerscharen auf Bethlehems Weiden intoniert. Und dass davon ja derzeit kaum die Rede sein könne.
Vielleicht auch erst, als ich in einem Nebensatz bemerkte, was es mit Gottes neuer Welt auf sich hat: dass es dann, wenn es soweit ist, keinen Schmerz und keinen Tod mehr geben wird. Keinen Hunger und keinen Durst. Keinen Hass und keine Ungerechtigkeit. Keine Gewalt und keinen Krieg. Ja, dass alles, was wir von Gottes neuer Welt zu erwarten haben, viel großartiger und viel besser ist als das, was wir in der jetzigen Welt erleben und dass es sich darum lohnt zu warten.
Wir haben zum Abschluss unseres kleinen Disputes nicht voller Inbrunst gemeinsam das Vater Unser gesprochen. Aber mein Bekannter hat mir immerhin zugestimmt, dass es wohl besser sei, jene Bitte im Gebet des Herrn zu belassen: »Dein Reich komme«. Ich meine auch: Besser ist das.
Ihnen allen weiterhin eine fröhliche Wartezeit auf das Christfest,
Ihr Bernd Tiggemann

Artikel vom 11.12.2004