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Jungen Menschen Chance geben

Stadtgespräch zum Thema »Fremde in der Heimat?« aufgezeichnet


Von Stefanie Westing
Espelkamp (WB). Integration braucht Zeit. Diese - nicht neue - Erkenntnis brachte das WDR-Stadtgespräch unter dem Motto »Fremde in der Heimat? - Die neue Aussiedlergeneration«, das am Mittwochabend in der Aula des Söderblom-Gymnasiums aufgezeichnet wurde. Etwa 300 Interessierte waren gekommen, um die von Andrea Benstein und Dagmar Nottbusch moderierte Diskussion zu verfolgen.
Als Experten auf dem Podium saßen Dr. Klaus Lefringhausen, seit 2002 Integrationsbeauftragter der NRW-Landesregierung, der langjährige ARD-Russlandkorrespondent Gerd Ruge, Professor Herwig Birg, Bevölkerungswissenschaftler der Universität Bielefeld, und Claudia Hundertmark, Sozialarbeiterin bei der Diakonie in Espelkamp, die seit beinahe 22 Jahren junge Aussiedler betreut.
»Wir sind eine verlorene Generation«, zitierte Andrea Benstein zu Beginn aus dem Brief eines jungen Aussiedlers, der nach Deutschland gekommen ist aus der Provinz, »wo schlimme Flüche, Saufen und Schlägereien an der Tagesordnung« waren. In Deutschland sieht er sich einer ganz anderen Situation gegenüber: Der Lehrer spricht, aber der junge Aussiedler versteht ihn nicht. Die Eltern arbeiten in ihnen fremden Berufen, weil ihre Diplome nicht anerkannt werden. Der Familie schlagen Vorurteile entgegen: Aussiedler seien kriminell und drogenabhängig, wollten sich nicht integrieren, heißt es, sie seien passiv, schotteten sich ab. Oft liege hier das Problem, sagte Gerd Ruge: »Die Leute waren in Russland nicht unerfolgreich. Wenn sie herkommen, ist das nicht selten eine furchtbare Enttäuschung, auf die Verbitterung folgt.«
Lefringhausen räumte mit einem Vorurteil auf: »Es heißt oft, die Integration ist gescheitert. Dabei reden wir nur über Extremfälle. Millionenfach ist Integration gelungen.« Lefringhausen berichtete von einem Projekt, das für 2005 in Vorbereitung ist: »Wir wollen, dass die Bürgermeister Migranten einladen, an den Problemen der Stadt mitzuarbeiten. Sie sollen das Gefühl vermittelt bekommen, gebraucht zu werden, nicht geduldet.«
Claudia Hundertmark erklärte, warum Russlanddeutsche zumindest zunächst gern unter sich bleiben: »Wenn Menschen einwandern, sind sie total fremd. Sie orientieren sich an den Leuten, die ein bisschen ähnlich sind, zum Beispiel die selbe Sprache sprechen.« Sie appellierte eindringlich an die Politik, die Bischof-Hermann-Kunst-Schule im Steil-Hof zu erhalten, um den jungen Menschen eine Chance zu geben.
Professor Birg nannte als Ursache des Integrationsproblems die geringen Geburtenzahlen in der Bundesrepublik: »Seit 1972 haben wir mehr Sterbefälle als Geburten und decken dieses Defizit mit Einwanderern.« Er nannte mangelnde Aufklärung als das größte Versäumnis der Politik. »Deutschland hat ein völlig falsches Selbstbild«, sagte er. »Es wird behauptet, Deutschland müsste sich öffnen wie die ÝVorbilderÜ Kanada oder die USA. Dabei hat Deutschland auf 100 000 Einwohner bezogen vier-, fünf- oder sechsmal so viele Einwanderer aufgenommen.« Er meinte, dass in Deutschland eine »gemeinsame Klammer« fehle, die alle verbinde, wie zum Beispiel in den USA der Stolz auf das Land.
Dass viele Integrationsbemühungen in Espelkamp Erfolg haben, machten eine Reihe von Gesprächspartnern im Publikum deutlich. Rudi Mantler zum Beispiel berichtete vom Verein »Real Life«, der größtenteils von Aussiedlern gegründet wurde, um ein Jugendzentrum am Bahnhof einzurichten und eine Plattform für den Dialog zu bieten.
Volker Spitzbarth, Leiter der Polizeiwache Espelkamp, betonte, dass die Bürger sich recht sicher fühlten. »Es gibt Unsicherheiten, aber nichts Dramatisches. Ich bin zufrieden.« Dagmar Nottbusch legte eine Kriminalstatistik vor, nach der 50 Prozent der in Espelkamp ermittelten jugendlichen tatverdächtigen Spätaussiedler sind. Spitzbarth dazu: »Die Zahl in Espelkamp ist nicht höher als woanders im Kreis oder in Nordrhein-Westfalen. Und die tatsächlichen Straftatenzahlen sind rückläufig.«
Detlev Hattenhorst, bei der Stadt betraut mit dem Projekt Soziale Stadt, wurde zum Stichwort Ghettoisierung befragt. Nottbusch sprach von »monotonen, reißbrettartigen Siedlungen«. Hattenhorst dazu: »Uns hat damals niemand gefragt, ob wir es schaffen, so viele Aussiedler aufzunehmen. Die mussten erstmal untergebracht werden. Heute können die Leute in die Planungen mit eingebunden werden, so dass wir sie nicht vor vollendete Tatsachen stellen müssen.« Das Projekt Soziale Stadt befinde sich in der Aufbauphase. »Erste gute Ansätze sind da.«
Das »Stadtgespräch« wird voraussichtlich am 6. Januar von 20.05 Uhr an auf WDR 5 gesendet.

Artikel vom 10.12.2004