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Alltag der Brüder ist selten märchenhaft

Hommage an große Volkskundler in Starbesetzung


Von Henrike Kopmann
Espelkamp (WB). »Es war einmal ein Land, wo die Nacht immer dunkel und der Himmel wie ein schwarzes Tuch darüber gebreitet war«: Den blinden Augen der schwarz gekleideten Alten eröffnet sich eine mysteriös-märchenhafte Welt. Jakob und Wilhelm lauschen und dokumentieren. Am Samstag gewährte das vierköpfige Schauspieler-Ensemble von »Shakespeare und Partner« im Neuen Theater faszinierende Einblicke in das unbekannte Leben der weltberühmten »Brüder Grimm«.
»Ich muss das Leben ausklammern«, Jakob Grimm (Martin Lüttge) hat sich seiner Wissenschaft verschrieben. Doch nach der Heirat der Schwester wird der besessene Sprachforscher »ständig aus der Ruhe der Arbeit gerissen«: »Ein Tee wäre gut«, meint er zu seinem jüngeren Bruder Wilhelm (Norbert Kentrup). Dessen Gegenfrage, »Wer macht ihn?«, konfrontiert die beiden Brüder mit einem schwerwiegenden Problem: Ihnen fehlt die weibliche Fürsorge, die ihnen die »Nebensächlichkeiten« des Alltags vom Hals hält. »Du musst heiraten«, fordert Jakob. Der manchmal recht grimmige Eigenbrötler hat bezüglich einer potentiellen Braut Wilhelms eigene Vorstellungen. Ihm schwebt eine zurückhaltende »Hausgenossin« vor, die nicht etwa versucht, das Leben der Brüder »umzukrempeln«.
Über die Frage, wer denn nun heiraten müsse, geraten die Grimms aneinander. »Vertragen wir uns wieder?«, fragt einer der beiden Dickköpfe lächelnd. »Nur wenn du nachgibst«, entgegnet der andere in liebevoller Ironie. Schließlich jedoch fällt die Richtige »direkt aus dem Himmel«: Dortchen (Marlen Breitinger) stört die konzentrierte Stille im Hause Grimm, um ein Märchen vorzutragen. Wilhelms schüchterner Heiratsantrag sollte schließlich nicht nur Dortchens Herz anrühren. Die unbeholfen-verlegenen Versuche, das Anliegen zu erklären, ließen auch beim Publikum kein Auge trocken. Von seinem Bruder gedrängt, »alles klar zu machen«, übergibt Wilhelm seiner Auserwählten den Blumenstrauß falsch herum. »Wie soll ich es sagen?«, stammelt Wilhelm. Ungeduldig fällt Jakob ihm ins Wort: »Mögen Sie seine Frau werden?«. Trotz dieses eher unromantischen Antrags durch den Bruder des Bräutigams stimmt Dortchen zu.
Als der hessische Hof den gelehrten Brüdern die gebührende Anerkennung verweigert, heißt es für die Grimms: »Auf in eine unbekannte Zukunft« nach Göttingen. In ihrer Stellung als Professoren sind Jakob und Wilhelm angesehen. Ihr politisches und moralisches Engagement wird ihnen jedoch zum Verhängnis. In den Unruhen der deutschen Revolution von 1848/49 sprechen sie sich gegen die willkürliche Abänderung von Gesetzen durch den Fürsten aus. Bettine von Armin (Dagmar Papula) setzt sie für die verarmten Gelehrten ein, und die beiden werden nach Berlin berufen. Obgleich sie zugeben, keine Helden zu sein, verfechten sie eine moralische und gerechte Gesellschaftsordnung. Jakob tritt in der Frankfurter Paulskirche für freiheitliche Werte und die Abschaffung der Standesprivilegien ein. Der Autorin Dagmar Papua, die gleichzeitig die resolute Bettine von Armin spielte, ist eine einmalig-originelle Hommage an die weltbekannten Märchensammler gelungen: Poetisch-märchenhafte Sequenzen unterbrachen das reale Leben, »das sich der Wissenschaft manchmal unverschämt in den Weg stellt«.
Nicht zuletzt bestach das Schauspiel durch die Darstellung tiefer Bruderliebe, was insbesondere die letzte Szene eindrucksvoll zum Ausdruck brachte: Jakob streichelt dem sterbenden Wilhelm sanft über den Kopf und erzählt »dem kleinen Bruder« ein Märchen aus Kindertagen.

Artikel vom 07.12.2004