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Das sprunghafte Temperament und der entwaffnende Charme dieser jungen Mitstudentin hatten sein Feuer himmelhoch lodern lassen. Er wusste nicht, war es ihre Wesensart oder die schrittweise, ihn schließlich überwältigende Entdeckung der körperlichen Liebe, der er für geraume Zeit völlig verfallen sollte. Frances inspirierte auch seine Malerseele zu neuen Entdeckungen. Vom ersten Moment an war Duncan vernarrt in ihre Augen, die zu lachen schienen, wenn sie etwas Ernstes sagte.Er schmachtete nach ihrem köstlichen Profil, ihrer feinen Nase, dem so schön geschnittenen Mund, dem weichen Kinn und der flotten, kurzen Frisur, die Frances eine kecke Anmut verlieh. Er hatte ihr Profil mehrfach nach einem Foto gezeichnet und sie dann überredet, für ein Leinwandbild Modell zu sitzen. Er half ihr wie bei einer Kleideranprobe mit Drehen und Wenden und Zurechtzupfen, bis sie die perfekte Haltung und Beleuchtung gefunden hatte. Er drapierte mit einem Schleier an ihr wie an einer Marmorfigur herum und begründete mit klugen Worten, wieso erst die Jacke und danach die Bluse als Bildmotive nicht überzeugten, weshalb er sie probehalber entfernte, um danach auch die uneleganten Tragebänder ihres Hemds und des Büstenhalters seitlich über ihre Arme zu streifen.
»Das passt in kein klassisches Bild!«, flüsterte er nahe an ihrem Ohr.
Als mit ihrer nächsten Bewegung die nur noch lose Draperie herunterrutschte, erläuterte er beeindruckt, wie wundervoll die seitliche Beleuchtung die Körperlinien herausmodelliere, und ging prüfend zwischen seinem Malerhocker und ihr hin und her, um sie schließlich von allem zu befreien, was nicht so vollkommen war wie ihre einzigartige hüllenlose Schönheit. Sie ließ sich dieses fachmännisch erscheinende Spiel mit verwundertem Gehorsam gefallen und spielte mit immer kürzeren Verzögerungen mit, um schließlich selbst die Regie zu ergreifen. Vom Malen war dann fürs Erste keine Rede mehr. Die Erinnerung an seine frivolen Annäherungen überkam Duncan noch Jahre danach immer wieder mit einem wollüstigen Schauer. Er hörte die Klaviermusik aus seinem alten Plattenspieler und fühlte etwas von der beseligenden Nähe in sich nachschwingen, die FrancesÕ Anwesenheit und die Entdeckung des Wunders »Frau« für ihn bedeutet hatten.
Doch trotz aller Gefühlsverstrickungen und Ablenkungen waren damals aparte Zeichnungen und Aquarelle entstanden. Wie bei den Landschaften taugte das Fertige und Glatte der Ölmalerei weit weniger als die Skizzen auf Papier, um den Zauber festzuhalten, der von einer schönen Frau ausging. In den brüchig andeutenden Kreidestrichen seiner Zeichnungen war die Erinnerung für Duncan zwar allzu lückenhaft festgehalten, aber der zerbrochenen Harmonie war deren Sprödigkeit durchaus angemessen. Das pathetische Großformat in Öl auf Leinwand, das er mit mächtigem Elan begonnen und nach mehrfachen Nachbesserungen zerschnitten hatte, zeugte nur von seinem vergeblichen Bemühen, den Traum von Frances festzuhalten, als sie ihm längst entglitten war. Nach den aufregenden Momenten der ersten Liebe hatte sie sich mit der Zeit immer rarer gemacht und hatte, wenn sie sich sahen, keine Geduld mehr aufgebracht, Modell für ihn zu spielen. Er musste sich eingestehen, dass die Sterne, die er für sie vom Himmel geholt hatte, nicht mehr als ein kurzes Feuerwerk für sie gewesen waren. Was er in fantasievoller Bewunderung für sie aufbot, hatte sie ausgekostet, aber sie nahm keinen Anteil an seinem Ehrgeiz, sich in Kunstwerken zu verwirklichen.
Aber Frances hatte ihm das Gefühl gegeben, im bewundernden Anschauen und Ausloten von Bewegungsmomenten etwas vom Geheimnis eines anderen Menschen mit den Augen festhalten zu können. Oder war es einfach die im Modellmalen gesteigerte Sinnenerfahrung, die seine verliebten Augen das Wunder der Schöpfung erleben ließ? Wie unendlich schwierig es war, die Spur der eigenen Verzauberung festzuhalten, war ihm in aller Deutlichkeit klar geworden. Aber selbst wenn er die eigentümliche Anmut ihres Körpers nicht fassen konnte, fühlte er sich angespornt durch die reizvollen Zeichnungen, zu denen Frances ihn inspiriert hatte und für die sie in jenem Jahr das Modell gewesen war.
Er dachte schon daran, ob er nach Art der alten Meister nebenher Anatomievorlesungen besuchen und vielleicht sogar an Seziertischen Eindrücke sammeln sollte. Eine einzige kurze Visite heilte ihn von der Illusion, Medizin und Kunst könnten sich so befruchten wie zu Rembrandts Zeiten. Er lernte, dass die wissenschaftliche Anatomie von Knochen, Muskulatur und Haut nichts mit der Spannung zu tun hatte, die ihn als leichtes Zittern beim Aktmalen überkam. Sein Auge wollte er deshalb lieber im Umgang mit der Technik der alten Meister schulen. Am liebsten hätte er die Uhr zurückgestellt und wäre in die Bilder der bewunderten Großmeister hineingekrochen: die eines Tizian, Velázquez, van Dyck. Er musste kopieren und selbst die Gestaltungseffekte ausprobieren. Und Kontakt zu den besten Restauratoren und Kennern von Maltechniken aufnehmen. Deswegen hatte er sich hier verabredet. Oder bescheidener ausgedrückt: Er hatte einen Besuchstermin eingeräumt bekommen in dem ehrwürdigen Hause, vor dem er nun stand.
Duncan drückte die Klingel. Nach dem Klingelton vergingen weitere Momente des Wartens, bis sich nach einer geräuschvollen Entriegelung ein Türflügel langsam auftat. Eine erhabene Institution öffnete sich schwerfällig, um einen Menschen voller Tatendrang endlich einzulassen. Sein Blick registrierte die aberwitzige Stärke der Tür und seine Nase die abgestandene Luft, die ihm aus dem Innern des Gebäudes entgegenquoll. ÝMuff und BürokratieÜ, sagte er stumm bei sich.
Dank seiner Herkunft und Erziehung, so ging es ihm durch den Kopf, würde ihm sicher ohne Schwierigkeiten gelingen, unabhängig von der Hierarchie in dieser weltberühmten Institution offene Türen zu finden. Er kam nicht als Konkurrent oder Stellensucher, sondern als jemand, der sich für seine ganz persönliche Spurensuche auf den Fährten der Alten Meister genaue Kenntnisse verschaffen wollte. Er brauchte das Wissen über deren berühmte Originalwerke, das hier in Bücherschränken, Karteikästen und Restaurierungsdossiers gespeichert lag. Und er wollte von den erfahrensten Fachleuten den Rat einholen, den er in keiner Akademie oder Universität bekam.
Was war er eigentlich? Maler? Kopist? Entdecker? Experte? Er konnte es sich zum Glück leisten, auf keine der engen Berufsschubladen Rücksicht zu nehmen. Jeder, der ihn kannte, sah in ihm einen Augenmenschen von hoher Begabung, was sich in seinen zahlreichen Funden von Meisterwerken unter Schmutz und Übermalungen, aber auch in seinen ersten Erfolgen als Auftragsmaler zeigte.
Deswegen war er hungrig auf London als Kunstmetropole Englands, die ihm ungeahnte Möglichkeiten eröffnen konnte. Hier konnte er die entscheidenden Förderer finden, den Kontakt zu jener Elite von Kenntnis und Einfluss, die ihm die Anerkennung als Experte und Künstler verschaffen konnte.
»Guten Morgen, Sir!« Die mächtige Gestalt eines Uniformierten empfing Duncan im Eingangskorridor.
»Ich habe eine Verabredung mit Mr. Ruhemann.« Der Portier studierte seine Anmeldeliste und bat ihn, in einem kleinen Wartezimmer schräg gegenüber Platz zu nehmen. Hier lagen Zeitschriften aus, und an den Wänden hingen mehrere Bilder, unter denen eine Schlachtenszene mit prächtig gemalten Pferden sogleich seine Aufmerksamkeit fesselte. Er hatte den auf dem Rahmenschild genannten Namen Tschaggeny - er flüsterte ihn zweimal vor sich hin - noch nie gehört; es musste sich aber um einen Spezialisten handeln, der eine Kenntnis und Erfahrung besaß, die keine heutige Akademie mehr vermittelte. Der Maler musste unendlich viele Studien hinter sich gebracht haben, um die so lebendig wirkenden Tierkörper in ihren Drehungen und Verkürzungen derart locker zu modellieren und eine glaubhafte Beleuchtung für die ganze Szenerie hinzubekommen. Die Bewegung war kühn durchdacht: Ein Reiter auf einem braunen Pferd springt knapp über ein niederstürzendes weißes hinweg.
»Nehmen Sie ruhig Platz; es kommt gleich jemand, um Sie abzuholen«, hörte Duncan den Portier sagen.
»Ja, so müsste man malen können!«, sagte Duncan ehrfürchtig zu sich selbst. Das hieße, viele Jahre tagein, tagaus Pferde aus allen Blickwinkeln zu skizzieren, Bilder und Zeichnungen der großen Spezialisten zu kopieren, Muskeln und Skelett an Modellen zu studieren, nach Zeichnungen und in der tiermedizinischen Anatomie, nach den griechischen Originalen des British Museum, nach monumentalen Denkmalfiguren und nach Gipsabgüssen. Wahrscheinlich hatte der Maler die Stichfolge von Stubbs über die Pferdeanatomie benützt oder auch das Duncan seit Kindertagen vertraute Werk von Alken über die Bewegungsstudien von Pferden. Vielleicht war der Maler auch geschickt genug gewesen, selbst nach der Natur zu zeichnen - so wie jene mutige Französin, die in Männerkleidung in den Schlachthallen, Pferdemärkten und Ställen mit ihrem Block herumgestreift war. Es war schon ein besonderer Fanatismus nötig, die einzelnen Pferderassen, Zuchtpferde wie Arbeitspferde, so präzis in ihren Unterschieden einzufangen und aus dem Studienmaterial schließlich eine so zufällig wirkende Komposition zu schaffen.
Die Pferdezeichner und Pferdemaler der Gegenwart kannten zwar auch die Muskeln, Sehnen und Sprunggelenke, aber ihre Tierporträts gerieten zu einer immer gleichen Wiederholung.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.12.2004