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»Geh heim zu deiner Mutter«

Wie Hans Hermann Stapel als 16-Jähriger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte

Von Gerold Brinkmann
Herford (HK). Erst als die englische Offizierin zu ihm sagt: »Go home to your mother«, da hat Hans Hermann Stapel wirklich geglaubt, dass er der Hölle entronnen ist. Was es bedeutete, vor 60 Jahren als junger Bursche von 16 Jahren in den Krieg zu ziehen, das steht dem heute 76-Jährigen stets lebendig vor Augen.

Am 8. Mai 1945 willigte Deutschland in die Kapitulation ein, sie markierte das Ende der Kriegshandlungen auf deutschem Boden. Wie Millionen andere Jugendliche auch sollte Stapel den Nazis zum »Endsieg« verhelfen. Am 5. Januar 1944 wurde er im Alter von 15 Jahren als Flakhelfer eingezogen. Stapel zog als Schüler der 5. Klasse der Mittelschule Bad Essen los. Sein Vater war seit Kriegsbeginn Soldat und kehrte erst 1946 zurück. Die Mutter, die bis zum Schluss an den »Endsieg« glaubte, bremste den Jungen, der schon in der Hitlerjugend aktiv war, nicht.
Stapel diente als Flakhelfer in Osnabrück. »Drei Landser aus der Steiermark in Österreich, drei Russen, die als Hilfswillige zwangsverpflichtet waren und drei Flakhelfer bedienten eine 8,8-Flak«, erinnert er sich. Die sechs Flakbatterien um Osnabrück waren strategisch sehr bedeutsam, weil die alliierten Flugverbände ihre Hauptangriffe auf Deutschland von holländischen Luftraum aus über Osnabrück nach Deutschland hinein flogen. »Wir waren in ständiger Alarmbereitschaft. Am 6. Dezember 1944 flogen die Alliierten ihren Hauptangriff auf Osnabrück und legten drei Bombenteppiche.« Stapel war mittendrin.
Am 5. Januar 1945 wurde er aus dem Hilfsdienst entlassen und erhielt die Anweisung, sich im Elternhaus in Preußisch Oldendorf für die Einberufung bereit zu halten. Stapel wartete zwei Monate.
»Am Dienstag vor Ostern, 27. März 1945, kam die Nachricht. Ich sollte mich unverzüglich bei einer Nachtjägereinheit in Lippstadt/Lipperbruch melden.« Die Abordnung zu einer Fliegerstaffel kam nicht von ungefähr. Stapel hatte bei der Hitlerjugend die Segelfliegerprüfungen der Klassen A, B und C abgelegt.
Der fast 17-Jährige radelt von Oldendorf nach Bielefeld. Hier will er sein Rad abstellen und mit dem Zug weiterfahren. Stapel sucht seinen Onkel Karl Frewert auf, der in der Bielefelder SPD einen bedeutenden Namen hatte. »Onkel Karl besaß in der Meller Straße ein Schuhgeschäft, eine Besohlungsanstalt, und beschäftigte sechs Fremdarbeiter aus Polen. Die gingen für ihn durchs Feuer, weil er sie gut versorgte.«
Frewert hörte am Radio englische Sender und steckte an einer Generalstabskarte den Frontverlauf ab. »Donnerstag vor Ostern war Lippstadt gefallen, der Onkel ließ mich nicht mehr weiterfahren.«
Samstag vor Ostern, 31. März 1945, stehen die Engländer vor Bielefeld. Hans Hermann Stapel schwingt sich auf sein Rad und fährt nach Oldendorf zurück. »Gegen 22 Uhr war ich wieder Zuhause.« Die Mutter ist ängstlich. Auf Fahnenflucht steht die Todesstrafe. Ein Mieter, der im Haus wohnt, schaltet sich ein. Er nimmt den 17-Jährigen zu sich und versteckt ihn.
»Ich habe immer befürchtet, dass die Alliierten Oldendorf bombardieren, weil es bei uns ein Lufttanklager gab, wo Normalbenzin in Flugbenzin verwandelt wurde. Der Kraftstoff wurde über eine Pipeline vom Mittellandkanal in das Lager gepumpt.« Doch es fallen keine Bomben.
Am Dienstag nach Ostern, 3. April 1945, ziehen die Amerikaner durch Oldendorf. Drei Tage später muss Stapel mit seinem Soldbuch vor eine englische Militärkommission treten. Er wird fotografiert. Eine Offizierin streicht mit der Hand durch seine bereits weiß werdenden Haare und sagt: »Go home to your mother.«
Der Krieg ist für den 16-Jährigen zu Ende. Und auch wieder nicht. Am Mittwoch nach Ostern, 4. April 1945, wird er mit einem Englischlehrer zu einer Panzersperre der Wehrmacht im Wiehengebirge gerufen. Dorthin hatten die Engländer drei Schmiedemeister beordert, die die Sperre aus Eisenbahnschienen aufschweißen und öffnen sollten. Die Sperre hatten versprengte Wehrmachtssoldaten geschlossen. Sie drohten den Schmiedemeistern mit Erschießen. Glücklicherweise rollten amerikanische Panzer heran, die Soldaten flohen in den Wald.
Seine Erlebnisse hat Stapel dem WDR mitgeteilt, der sie im Rahmen der Reihe »Zeitzeugen« senden will. Auch seine Heimatgemeinde ist an den Schilderungen interessiert. Und in Osnabrück gedenkt man am 6. Dezember des Bombenangriffs auf die Stadt, wozu Stapel mit seinen Erinnerungen wesentlich beitragen kann.
Nach dem Krieg wollte er Förster werden, doch das zerschlug sich. So wurde er Kaufmann, spezialisierte sich auf den Weinhandel, lebte und arbeitete in Herford von 1963 bis 1988 bei »Wein Ellermann«. Dann machte er sich mit einem Geschäft im Engelkingschen Haus an der Brüderstraße selbstständig. 2002 verlegte er das »Herforder Weinhaus« an die Hillewalser Straße in Elverdissen.
Wer etwas über das Ende des Krieges in Herford erfahren möchte, sei verwiesen auf das Buch von Museumsrat a.D Dr. Rainer Pape: ». . . bis 5 nach 12« Herforder Kriegstagebuch 1944/45«. Bussesche Verlagshandlung.

Artikel vom 04.12.2004