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Nachdem sie Pollys wenige Habseligkeiten in einer Liste aufgenommen hatte, befahl die andere barsch: »Alles ausziehen!«
»Alles?«, fragte sie zögerlich zurück.
»Alles!«
Polly legte ihr Kleid ab und wartete.
»Ich sagte alles!«, klang es drohend.Polly nahm ihren ganzen Mut zusammen: »Ich entkleide mich vor niemandem freiwillig!« Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie Erfolg. Die Uniformierte gestattete ihr, im Schutze eines schmuddeligen Badezimmers ihre letzten Kleidungstücke abzulegen. Polly benutzte die Toilette. Zitternd zwängte sie sich danach in alte, geflickte und mit Flecken übersäte Unterwäsche, zog kratzige, braune Wollstrümpfe mit roten Streifen an ihren schlanken, weißen Beinen hoch und zwängte sich am Ende mit Abscheu in das widerwärtige Gefängniskleid. Als sie zurück in ihre Zelle geführt wurde, weideten sich die Uniformierten am Anblick der Gefangenen.
»Elegant! Bis dass der Tod euch scheidet É!«, höhnte die eine und zog die Zellentür hinter sich ins Schloss.
Polly lag in der Schwärze ihrer Zelle, als trüge sie eine Augenbinde. Sie konnte keinen Schlaf finden. Die Kälte kroch an ihr hoch. Sie kannte dieses Gefühl der Ausweglosigkeit bisher nicht, das sie von einer Sekunde zur anderen überwältigte und das sie weder kontrollieren noch überwinden konnte. Das Einzige, worauf sie sich zu stützen begann, um ihre Erschütterung zu überwinden, war die gemeinsame, gerechte Sache und die Unterstützung aller gedemütigten Frauen im Kampf gegen die Männerherrschaft É
Am Tage darauf zwang sie sich zum Aufstehen und nutzte die angebotene Stunde des schweigenden Umhergehens in dem bitterkalten Innenhof des Gefängnisses von Holloway. Sie stand immer noch unter Schock und blickte starr vor sich hin, sodass sie keine der anderen Inhaftierten, die mit ihr die Runde gingen, wahrnahm. So bemerkte sie nicht, dass eine ihrer Leidensgefährtinnen sie beobachtete. Als die Uniformierten schwatzend zusammenstanden, nutzte die Mitgefangene die Chance und trat neben sie: »He, Polly! Kopf hoch!«
Polly riss die Augen auf und erkannte Miss Emmeline Pankhurst. Die Anführerin der Suffragetten wirkte abgezehrt, mit tiefen Schatten unter den Augen, ganz anders, als Polly sie in Erinnerung hatte. Aber das Feuer in den Augen war ungebrochen.
Polly umklammerte Emmeline in Panik wie eine Ertrinkende den zugeworfenen Rettungsring und fing an zu schluchzen.
»So beruhige dich doch É Beruhige dich É!«, versuchte Emmeline ihr Bestes. Es gelang ihr, bevor die Wärterinnen anrückten, um sie gewaltsam zu trennen, Pollys Kopf zwischen ihre Hände zu nehmen. »Sieh mich an! Du sollst mich ansehen! Hör mir zuuuu É!«, hämmerte sie los. Als Polly ihrem Blick standhielt, sagte Emmeline in beschwörendem Ton: »Der Weg der Änderungen führt immer durch die Gefängnisse! Sie versuchen das zu töten, was nicht sterben kann!«
Als die Wärterinnen sie brutal auseinander zerrten, schrie Emmeline aus Leibeskräften: »Pollyyyy! Vergiss es niiiiie É! Nur so überlebst du Hollowaaaay É!«
Bei ihrem Marsch zurück durch die Gänge kam sie an der Frauenabteilung vorbei, die, wie sie später erfuhr, als die dritte Abteilung bezeichnet wurde. Was sie sah, trieb ihr wiederum die Tränen in die Augen. Es gab Mädchen von nur achtzehn Jahren, deren Gesichter wie Blumen waren, die man zerdrückt hatte. Durch ein vier Zoll starkes Gitter ragten Handgelenke hervor, die bandagiert waren, und sie stand vor der bedrückenden Frage, was der Grund dafür sei. Zurückgekehrt in ihre Zelle, entschloss sich Polly, wie schon zuvor ihre Mitkämpferinnen, gegen die Willkür und die Erbarmungslosigkeit anderen Frauen im Gefängnis gegenüber in den Hungerstreik zu treten. Die Konsequenz hätte sie beinahe das Leben gekostet É
Zunächst war sie überrascht, dass eine Uniformierte sie am nächsten Tag aufforderte, vor das Board of Governors zu treten. Der Auftritt vor dem Board war eine Zeremonie, die ausschließlich für die aufsässigsten Insassen der Gefängnisse reserviert war. Als sie in den Raum stolperte, starrte sie eine schreckliche Versammlung älterer Gentlemen an. Sie wurde am Ärmel vor den Vorsitzenden geführt, der sie für einen Moment schweigend musterte. Daraufhin forderte dieser die Wärterin auf, den Hergang ihrer »Aufsässigkeit« zu erzählen. Als die Uniformierte geendet hatte, sagte er: »Hungerstreik? Sie sind eine dumme, junge Frau!«
Er starrte sie an und blies endlos Luft aus sich heraus, sodass seine dicken Wangen vibrierten. Polly registrierte, dass die Vorsteherin von Holloway, eine alte ehrwürdige Dame, die alle als Gefängnismutter bezeichneten, hinter dem Stuhl des Vorsitzenden wie ein Lakai zu stehen hatte, während er und seine beleibten Brüder sich auf den bequemen Stühlen zurücklehnten.
»Es ist eine Schande, dass unsere Gefängnismutter zu stehen hat, während Sie alle sitzen - rund und fett in Ihren bequemen Stühlen!«
Der Hieb hatte gesessen.
Polly wiederholte: »Ich sagte: Eine Schande!«
Die Uniformierte ergriff ihren Oberarm und kniff sie mit den Fingern, so das es höllisch schmerzte. Die Vorsteherin zeigte sich irritiert und errötete ebenso wie die Glatze des Vorsitzenden. Dieser drehte sein feistes Gesicht zurück, um festzustellen, wie sein Kollegium hinter ihm auf Pollys Rüffel reagierte. Die Herren waren jedoch offensichtlich der Auffassung, dass er die Angelegenheit allein regeln sollte. Daraufhin richtete er seinen strengen Blick auf Polly. »Sie werden sich für die Dauer von zwei Wochen nur von Brot und Wasser ernähren!«
Polly lächelte ihn an. Sie fing an zu gluckern, worauf der Griff der Uniformierten auf ihren Arm wiederum schmerzhaft zunahm. Doch sie hatte nicht vor, das Theater hinzunehmen. »Brot und Wasser! Was glaubt ihr eigentlich? Das ist doch absurd, wenn ich zum Todesfasten bereit bin. Ich habe vor, meinen Körper als Waffe gegen meine ungerechte Inhaftierung zu benutzen!«
Ein Nicken des feisten Vorsitzenden genügte, worauf die Uniformierte das Gespräch zu einem schnellen Ende brachte, indem sie Polly aus dem Zimmer hinausdrängelte. Draußen auf dem Gang begann sie wie eine Furie: »Gift werd ich dir geben, verdammte Schlampe!«
»Und nur deswegen, weil ich die Wahrheit aussprach, dass nämlich unsere Gefängnismutter hinter Männern zu stehen hat, als ob sie eine Magd wäre?«, erwiderte Polly aufsässig. Ein schmerzhafter Stoß hinter ihr Schulterblatt beendete das Wortgefecht.
Polly setzte ihren Hungerstreik konsequent fort. Sie wurde daraufhin in die Zelle der »Bestraften« verlegt, was sich nur als ein Zwischenspiel herausstellen sollte. Die Zelle der »Bestraften« musste die ehemalige Folterkammer von Holloway gewesen sein. Es war ein unterirdischer Raum, größer als eine der gewöhnlichen Gefängniszellen. Es gab kein Fenster und somit kein natürliches Licht von außen. Lediglich eine winzige Lampe, eingemauert im Zentrum der Decke, spendete ein wenig Helligkeit.
Das Besondere an der Zelle der »Bestraften« waren die gummierten Wände. Im Winter vor Kälte steif, im Sommer erstickend warm. Doch der Geruch des Gummis ekelte und folterte die Gefangenen darin das ganze Jahr. Das einzige Möbel bestand aus einem Hocker. Das Bettgestell samt der Matratze wurde tagsüber entfernt und nur zur Nachtzeit hereingebracht. Das Essen, zum Brechen des Hungerstreiks gereicht, wurde in Kanistern hereingeschoben. Messer und Gabel gab es nicht. Die Suffragetten - vor allem diejenigen, die sich im Hungerstreik befanden - hätten sich damit womöglich das Leben nehmen können É
Am siebten Tag ihres Hungerstreiks stellte sich bei Polly in ihrer Gummigruft tiefste Schwermut ein.
»Sie versuchen das zu töten, was nicht sterben kann!«, wiederholte sie gebetsmühlenartig die Worte Miss Emmelines, um sich selbst Mut und Kraft zuzusprechen. Der Hunger zeichnete langsam seine Spuren auf den Körper der Fastenden. Sie hatte inzwischen das Gefühl für Tag und Nacht vollends verloren, da das Licht an der Decke zu unregelmäßigen Zeiten an- und ausgemacht wurde. Manchmal war sie froh, wenn das Licht endlich erlosch, da sie es nicht mehr vertrug.
Plötzlich nahm sie ein Scheppern metallener Räder wahr, das über das Gangpflaster näher kam. Sie witterte Gefahr. Sie hatte mit so etwas gerechnet. Instinktiv klammerte sie sich am Bettgestell fest.
Die Tür wurde entriegelt. Fünf Uniformierte drangen in die Gummizelle. Der Horror einer gewaltsamen Fütterung brach über sie herein. Sie versuchte sich mit ihren letzten Kräften zu widersetzen, indem sie den Rahmen des Bettgestells umklammerte. Doch kräftige, geübte Frauenhände lockerten den Griff.
Polly rollte sich von der Pritsche herunter auf den Boden und versuchte sich den Pranken ihrer Peiniger zu entwinden. Der Kampf dauerte an, bis es den Matronen in Uniform gelang, sich über Körper und Beine Pollys zu legen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, sodass sie um ihr Bewusstsein fürchtete. Zu ihrem Entsetzen wurde nun der niedrige metallene Rollwagen, der auch zur Leichenentsorgung im Gefängnis von Holloway benutzt wurde, hereingerollt. In dessen Gefolge kamen die »Ärzte«.
Wie durch ein Wunder wurde Polly gerettet. Zunächst von zahlreichen Krankenhäusern Londons abgewiesen, die wegen der Pflege von Suffragetten um ihre Spendengelder fürchteten, erbarmten sich ihrer die Ordenschwestern von Pembridge Gardens. Mit der Geduld von Engeln brachten sie sie aus dem schwarzen Abgrund, in den sie gefallen war, wieder heraus. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Gesundheit nach einigen Wochen wieder einigermaßen hergestellt war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.12.2004