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Fabel aus dem Morgenland

Rafik Schami faszinierte Zuhörer in Goerdeler-Aula

Von Rainer Maler (Text und Foto)
Paderborn (WV). Mehr als 450 Zuhörer wollten am Mittwoch Abend in der Aula des Goerdeler-Gymnasiums dem aus Syrien stammenden Erzähler Rafik Schami lauschen.

Der promovierte Chemiker, der 1971 aus dem »Morgenland« zum Studium nach Heidelberg kam, ist längst zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller geworden. Vielleicht können Naturwissenschaftler besser erzählen, ist ihr Blick geschärfter. Er wolle aus seiner Fälschung »Die dunkle Seite der Liebe« vorlesen, so kündigte sich der von der Buchhandlung Linnemann eingeladene Autor selbst an.
Ist der Roman etwa eine Fälschung? Mitnichten! Der Autor las keine einzige Zeile wirklich vor, und doch war es die lebendigste Lesung seit langer Zeit. Fabulierend und gestikulierend entführte der Mann mit dem buschigen Schnurrbart die Zuhörer in die Welt einer Familiensaga. Listige Mütter, weichherzige Polizisten, verschlagene Verwandte, politische Intrigen, religiöser Fanatismus, genarrte Geheimdienstler, alles taucht auf, der ganze Orient mit einer Pracht an schönen Frauen, dramatischen Liebesgeschichten und Flucht aus einer menschenverachtenden Diktatur.
Im Mittelpunkt steht eine mehr als 80 Jahre zurückreichende Blutfehde zwischen den christlichen Sippen der Muschtaks und der Schahins. Rana - der Name bedeutet »die Schönheit, die den Blick gefangen hält« - verliebt sich in das Lachen des jungen Farid Muschtak. Es bleibt den beiden am Ende nur die Flucht, um ihre Liebe zu retten und nicht dem eskalierenden Wahnsinn aus Hass und dumpfer Gewalt zum Opfer zu fallen. Mit den Pässen von Auferstandenen fliehen sie.
In Syrien erhält man nicht so einfach einen Pass. Also bedient man sich der Daten von früh verstorbenen Kindern, die auf keiner schwarzen Liste stehen. Die Araber seien ängstlich, deshalb gäben sie sich starke Namen, erzählte der Autor, und seien in allem gründlicher als die deutschen. Sie schafften es, Konflikte über Jahrhunderte lebendig zu halten, schließlich käme das Wort Mafia aus dem Arabischen und heiße Schattenwelt.
Schami ist ein Weltenwanderer, immer noch mit Heimweh nach Damaskus, wo die Mutter im Winter im Kinderzimmer durch die Decke tropfendes Wasser in Schüsseln auffing und die Kinder nachts der Wassermusik lauschten - in einem Land, in dem die Menschen nur in »Gesunde« und »Dürre« eingeteilt würden. »Gesund« sei man erst, wenn der Hulahoop-Reifen genau passe. Die Menschen seien mit ihren Gefühlen, Sehnsüchten und Hoffnungen überall gleich, aber mangelndes Wissen von anderen Kulturen, fehlender Realitätssinn und zuviel Kosten-Nutzen-Denken erschwerten das Zusammenleben. Da bleibe die Liebe noch die schönste Hoffnung auf Veränderung.

Artikel vom 19.11.2004