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Lehrstück über die
Macht der Vorurteile

Theater Greve zeigte »Andorra« von Max Frisch

Herford (bex). Es hätte wohl kein besseres Datum für eine Aufführung von »Andorra« geben können. Am Abend des 9. November, des Jahrestages der Reichspogromnacht von 1938, gastierte das Theater Greve (Hamburg) mit einer eindringlichen Inszenierung des modernen Klassikers von Max Frisch im Stadttheater. Die Tourneebühne zeigte vor vollem Haus dem zum überwiegenden Teil jugendlichen Publikum die verhängnisvolle Wirkung von Vorurteilen und Unbelehrbarkeit.

Der junge Andri (Michel Haebler) lebt im fiktiven Staat Andorra, nicht zu verwechseln mit dem Kleinstaat in Nordspanien. Er ist Pflegekind des Lehrers Can (Bernd Seebacher) - und Jude. In Wirklichkeit ist er jedoch der uneheliche Sohn des Lehrers und einer Senora aus dem feindlichen Nachbarland der Schwarzen. Andris wahre Herkunft bleibt aber zunächst verborgen. Deshalb kann er auch nicht verstehen, warum er die leibliche Tochter des Lehrers, Barblin (Jasmin Saghi), nicht heiraten darf. Zudem sehen die Andorraner in ihm den Juden, der entsprechende Verhaltensweisen »im Blut« hat, eben »anders« ist und einfach kein Andorraner sein kann. Unter dem Druck der Vorurteile und Diskriminierungen nimmt Andri sein fremdbestimmtes Schicksal an, bekennt sich zu seinen »jüdischen Eigenschaften«, selbst als er von seiner wahren Herkunft erfährt. Die Tragödie nimmt ihren Lauf: Die aus dem Nachbarland angereiste Senora (Karin Kiurina) wird durch einen Steinwurf getötet, die Schwarzen besetzen Andorra, Andri wird erschossen, der Lehrer erhängt sich, Barbli verliert den Verstand.
Frisch erzählt in seinem 1961 uraufgeführten Stück von der Macht der Vorurteile. Modellhaft führt er vor, wie ein Mensch nicht er selbst sein darf. Die Abwesenheit der Vernunft zeigt sich auch in den eingestreuten Rückblend-Monologen, in denen die Andorraner beteuern, von allem nichts gewusst, alles so nicht gewollt und vor allem keine Schuld zu haben - bekannte Reflexe im Umgang mit der Vergangenheit.
In der Inszenierung von Manfred Greve agieren die 16 Akteure in einem spartanischen Bühnenbild von Horst Strasser als gut eingespieltes Ensemble. Bernd Seebacher in der Rolle des Lehrers verkörperte in beeindruckend differenzierter Weise die Zwiespältigkeit seines Charakters: Einerseits verteidigt er seinen Sohn gegen alle Anfeindungen, andererseits hat er diese mit der Mär von seiner jüdischen Abstammung selbst zu verantworten. Leider gerät die Darstellung manch anderer Figur zu eindimensional und plakativ (Soldat, Pater). Etwas mehr Tempo, sprich einige Kürzungen, hätten der immerhin fast dreistündigen Aufführung (inklusive Pause) auch gut getan.

Artikel vom 11.11.2004