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Wahrheit macht betroffen

Ausdrucksstarkes Ensemble setzt »Andorra« in Szene

Lübbecke (WB). Zum Auftakt der Abonnementreihe A des Kulturrings Lübbecke gastierte das Theater Greve mit dem Schauspiel »Andorra« von Max Frisch in der Stadthalle. »Theater ist ein Ort gegen Wahrnehmungsverluste des Menschen«, so Reggisseur Manfred Greve. Die Wahrnehmung des Lübbecker Publikums wurde gleich mehrfach an diesem Abend gefordert. Von einem Einführungsvortrag über Max Frisch, der Musik des Salonorchesters mit Heinz-Hermann Grube bis zur Aufführung von »Andorra«. Vor 43 Jahren uraufgeführt, besticht das Stück nach wie vor durch seine zeitlose Wahrheit und die Problematik der Vorverurteilung vor dem Urteil, die betroffen macht.

Sehr gut besucht war das Haus in Lübbecke von vielen jungen Zuschauern. Was ist es also, das die Menschen nach wie vor in die Theater zieht? Bei dem jungen Publikum sicherlich zum einen, dass dieses Stück zum Lehrplan der Gymnasien gehört. Doch zum anderen auch durch die brennende Aktualität, wie Menschen mit Menschen umgehen. Das war und ist erschütternd und brutal zugleich.
Manfred Greve inszenierte das Stück in epischer Breite (der Abend dauerte beinahe drei Stunden), sparsam in Gestik und lauten Worten und ohne effekthaschende Regieeinfälle. »Andorra« als Modell, kein realer Staat, steht als Synonym für eine Situation, in der der Antisemitismus eine tragende Rolle spielt. Das Schauspiel gleicht einer Collage, in der sich Zeit- und Handlungsebenen vermischen. Immer wieder tritt ein Andorraner in einer Art Rückblende an eine Zeugenschranke und beteuert in einem Monolog seine Unschuld. Das Spiel selbst macht den Zusammenhang für die Zuschauer dennoch recht deutlich. Es zeigt die Protagonisten, die in ihren Vorurteilen und Lügen leben und die alle geißeln, die anders sind. Und wenn das Unheil seinen Lauf genommen hat, will niemand schuldig sein. So sind sie, die Menschen in ihren strahlend weiß gestrichenen Häusern in Andorra - doch nur in Andorra? Wut über das Einordnen der Menschen in Schablonen äußert sich in dem Stück von Max Frisch, das letztlich in einem Debakel vom Ausmaß einer griechischen Tragödie endet. Die Geschichte des jungen Andri, gespielt von Michael Haebler, der von einer feigen, lügnerischen und auch neidischen Gesellschaft zum Juden bestimmt wird, zeigt die ganze zerstörerische Kraft menschlicher Vorurteile auf, mit der sich die Menschheit selbst zerstört.
Was sich da an Klischees und Wahrnehmungen in den Köpfen festgesetzt hat, wird nicht mehr überprüft und angezweifelt. Dagegen hat selbst die lauterste Wahrheit nicht den Hauch einer Chance. Da alle Welt Andri für einen Juden hält, beginnt er sich »jüdisch« zu fühlen. Hier steht der Antisemitismus für all die Vorurteile der Mehrheit, aus denen die Tragödien der Minderheiten erwachsen. Die Problematik ist so präsent, dass selbst das Bühnenbild sich auf wenige Effekte, durch das Bühnenlicht verstärkt, beschränkte. Emotional sehr ausdrucksstark spielte Bernd Seebacher den Lehrer und Vater, den seine Lebenslügen in den Tod treiben. Jasmin Saghi war eine beeindruckende Barblin, Jürgen Dessau der besserwisserische Arzt-Professor, Claus Stahnke ein stur-brutaler Soldat (bei dem das junge Publikum leise buhte), und alle weiteren Ensemblemitglieder setzten die zwölf Bilder eindrucksvoll in Szene. Eine Aufführung, die in der Wahrhaftigkeit berührte, in der Menschen Menschen spielten, geängstigt, gejagt und bedrückt, ohne zu übertreiben. Margot Osterodt

Artikel vom 08.11.2004