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Rückkehr in Realität verpasst

Dritte Lesereise der Kammerspiele mit Nikolai-Gogol-Abend gestartet

Von Andrea Pistorius
(Text und Foto)
Paderborn (WV). Träume hat jeder. Und gelegentlich ist es herrlich, in Wunschvorstellungen zu versinken, in denen das Leben besser und glücklicher ist. Nikolai Gogols Schreibstuben-Held Poprischtschin verpasst die Rückkehr in die Realität, und wie er langsam dem Wahnsinn verfällt, das breitete Schauspieler Frerk Brockmeyer sehr lebendig in einer Lesung aus.

Die Westfälischen Kammerspiele haben zur dritten Lesereise durch die Weltliteratur eingeladen, diesmal unter dem Thema »Die Welt ist auch anderswo«, und der Start fand am Donnerstagabend in der Stadtbücherei Salzkotten statt. Die Zuhörer mochten selbst entscheiden, ob an diesem Abend die andere Welt in Russland oder im Kopf eines Verrückten lag, unterhaltsam war der Ausflug allemal.
Der am Paderborner Theater neuverpflichtete Schauspieler Frerk Brockmeyer hatte die bizarre Erzählung »Tagebuch eines Wahnsinnigen« von Gogol als Beitrag für die Lese-Reihe selbst vorgeschlagen, da er sie schon andernorts mehr gespielt als gelesen hatte. Und so ließ er auch im nostalgischen Ambiente der Bücherei, die genauso gut eine russische Schreibstube hätte sein können, den Beamten Poprischtschin mal laut, mal leise seinen Träumen nachhängen.
Anfangs schien der in der gnadenlosen Hierarchie der Bürokraten mehr unten eingeordnete Held noch ganz normal zu sein. Brockmeyer gab ihn wichtigtuerisch gegenüber Lakaien und unterwürfig im Gespräch mit dem Direktor. Dem Fräulein Sophie, das Poprischtschin vergeblich anbetet, verlieh er eine zarte Stimme, die sanft über ihre Seidenstrümpfe streichelte und das verwöhnte Schoßkätzchen maunzen ließ.
Doch spätestens in dem Moment, als der Illusionist an der Haustür des Direktors verlangt, Sophies Katze zu sprechen, wird klar, dass Gogol eine Tragikomödie erzählt. Sein Held landet als spanischer König - er hält sich für Ferdinand den Achten - im Irrenhaus und biegt sich noch selbst dort die Misshandlungen des Aufsehers als höfisches Zeremoniell zurecht. Brockmeyers Vortrag wurde gespenstisch, dazu bewegte sich sein Schatten riesengroß wie ein geheimnisvolles Menetekel an der Bruchstein-Wand und düstere Streicherakkorde ließen erschaudern.
Nach knapp einer Stunde war der Ausflug in die Welt anderswo beendet; die Rückkehr in die Gegenwart erleichterte Dramaturg Jörg Uhl mit einem Glas Rotwein, bei dem sich Theaterleute und Zuhörer noch in Betrachtungen über das Gehörte vertieften. Die Lesereise wird am 26. November fortgesetzt: Vier Schauspieler lesen im Café Martinus in Bad Lippspringe Liebeslyrik von Gryphius bis Gernhardt.

Artikel vom 30.10.2004