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Bekenntnis zu »Pilzköpfen« erfordert Mut

Geschichten aus der Schülerzeit eines Rahdeners erinnern an Erlebnisse in der Beatles-Ära

Rahden (WB). Zurzeit steht Rahden ganz im Zeichen der Beatles-Ära. Die Begeisterung in der Bevölkerung schlägt hohe Wellen. »Da wird man, wenn man diese Jahre als Jugendlicher mitgemacht hat, automatisch von der Beatles-Nostalgie angesteckt«, meint Leser Ulrich Willms. Er erinnert aus eigenem Erleben an diese Zeit mit seiner folgenden Erzählung, die wir in zwei Teilen veröffentlichen.

»Damals war es eine richtige kleine Revolution, die Haare etwas länger zu tragen als ÝnormalÜ. Unsere Lehrer an der Rahdener Hauptschule waren Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Mathe-Lehrer hatte im Krieg seinen Arm gelassen, unserem Deutsch-Lehrer hatte man durch die Hand geschossen. Es waren gute Lehrer, und sie gaben ihr Wissen an uns weiter, so gut sie konnten. Einer weckte uns beim Physik-Unterricht mit schwachen Stromstößen auf, und er baute mit uns eine Rakete, mit der wir dann den Misthaufen auf dem Nachbargrundstück beschossen.
Einmal brauten wir im ChemieUnterricht einen regelrechten Stinkbomben-Mix, füllten ihn in eine große Spritze und injizierten diese Essenz direkt durch das Schlüsselloch der Schulküche. Man kann sich das Geschrei vorstellen, als der Extrakt seine volle Wirkung entfaltete.
Ich war dennoch zu jener Zeit eher so eine Art braver Musterschüler. Und die Mehrheit der Klasse war nach außen hin artig und angepasst. Aber heimlich waren wir doch auf einen Mitschüler besonders stolz, und das war Ludwig (Name geändert, d. Red.), unser ÝKlassen-BeatleÜ. Er trug seine Haare mutig in der Art der Pilzköpfe, der Musikgruppe, deren Musik und Aussehen wir so bewunderten. Und das war damals schon ein echtes Zeichen von Mut, ja fast Rebellion, denn man konnte wegen seiner Haarfrisur Nachteile, Diskriminierung oder ganz einfach Anpöbeleien riskieren. Unsere Lehrer waren, was das ÝBeatletumÜ betraf, relativ weise und tolerant, höchstwahrscheinlich auch, weil sie im Krieg ganz andere Sachen mitgemacht hatten, als ein ÝHaarproblemÜ. Unser Klassenlehrer und Rektor wurde eigentlich nur dann ÝfuchsteufelswildÜ, wenn die Klasse beim Religionsunterricht zu sehr daneben sang. Er muss damals wohl schon geahnt haben, dass die Beatles einst zu den Klassikern der Musikgeschichte gehören würden. Außerdem wusste er genau, dass in der langen deutschen Geschichte viele berühmte Männer lange Haare (zumindest Perücken) getragen hatten, waren es nun Karl der Große, Friedrich Barbarossa, August der Starke oder der ÝAlte FritzÜ, ganz zu schweigen von den Philosophen, Dichtern, Komponisten und Wissenschaftlern.
Zum Glück hatte ich bei unserem Rektor eine Sonderstellung, wenn er wieder einen seiner Verzweiflungsanfälle bekam, denn ich nahm Klavierstunden, das heißt, musste sie nehmen. Meine Großmutter hatte sich ein uraltes Klavier vom Munde abgespart, weil das ihr Traum war, und nun stand das antike Stück herum, und niemand konnte darauf spielen. In dem großen, roten Gebäude der Schule stand in der Aula auf einem Podest ein riesiger Flügel. Ich musste nun beim Religions-Unterricht für die gesamte Klasse beim Choral immer den Anfangston angeben. Aber wenn der falsch war, dann ging der ganze Choral schief. Vielleicht dachte unser Rektor auch, einige aus der Klasse würden mit voller Absicht daneben singen.
Meine Klavierlehrerin wohnte in der romantischen, kleinen Katzengasse. Neben dem Klavier hielt ein großer Hund Wacht. Ich hatte immer wieder Angst, der Hund würde beim nächsten falschen Ton anfangen zu heulen oder mich anfallen. Aber wenn ich mich verspielte, schaute er mich einfach nur groß an. Um all die falschen Töne ihrer Schüler zu ertragen, brauchte die Klavierlehrerin manchmal einen Schnaps oder eine Zigarette, die sie dann ganz elegant wie eine Dame auf einem Zigarettenhalter ansteckte, denn sie war Vollblutkünstlerin.
Wenn ich dann allerdings von den Beatles oder ihren Erz-Konkurrenten, den Rolling Stones, schwärmte, dann tat sie so, als würde ich vom ÝLeibhaftigenÜ persönlich reden oder als würde Rembrandt zum ersten Mal ein Bild von Pablo Picasso sehen.«

Artikel vom 26.10.2004